Das Urbane als Schein und Wirklichkeit.

von Thomas Duschlbauer.

„Das Spektakel und die wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit lassen sich nicht abstrakt einander entgegensetzen; diese Verdoppelung ist selbst doppelt. Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt. … Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich. Diese gegenseitige Entfremdung ist das Wesen und die Stütze der bestehenden Gesellschaft.“
Die Gesellschaft des Spektakels, 1967, Guy Debord

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Alles zum Thema „Urban Imagineering“ in XING 31

mit Beiträgen von Julya Rabinowich, Richard Senett, Neil Brenner, Chiara Lorenzo u.a.m. Hier XING 31 online oder Ausgabe per Email bestellen, oder ein XING 31 :: Info herunterladen.

Die unglaubliche Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus hat auch den Städten ihren Stempel aufgedrückt. Aus den Zentren des Bürgertums mit ihren kleinbetrieblichen Strukturen wurden bis zum 20. Jahrhundert oft aufstrebende Industriestandorte, da hier der Bedarf an Arbeitskräften am leichtesten zu decken war. Aus der Massenproduktion zur anfänglichen Befriedigung der Grundbedürfnisse entwickelte sich schließlich eine neue Spielart des Kapitalismus: jener der Massenkonsumption, der sich neu verortete und beispielsweise mit den 3. Orten auch neue räumliche Erfahrungen mit sich brachte. Die Stadt ist mehr als eine bloße Gebärmaschine des anonym Dinglichen, sie ist auch ein Ort der Repräsentation ihrer Individuen. Die stinkende, dreckige und hektische Industriestadt ist vielerorts somit eine nostalgische Erzählung und ihre Rudimente sind schicken Neuinterpretationen unterworfen worden, denn Städte sind heute zumindest sauber und grün, wenn nicht gar antiseptisch.

Die Event-City

Nur so können innerhalb des städtischen Raumes von den anderen auch jene Bühnen und Laufstege ungestört wahrgenommen werden, auf denen wir uns mit modischen und technischen Accessoires, Lebensmittelintoleranzen etc. selbst inszenieren. Die „Gesellschaft des Spektakels“, welche vom Künstler und Kapitalismuskritiker Guy Debord vor bald 50 Jahren skizziert wurde, erfährt in den Städten heute ihre Neudefinition: In seiner Konsum- und Medienkritik beschrieb Debord bereits 1968 eine Gesellschaft, worin die Alltagserfahrung zunehmend von Werbung und PR durchdrungen und inszeniert ist. Die Menschen agieren darin quasi wie hypnotisiert und kompensieren das, was ihnen im Alltag versagt bleibt, über den Starkult, weshalb u. a. auch die Politik zu einem Showbusiness geworden ist. (1)
Debord konnte als einer der bedeutendsten Vertreter des Situationismus damals allerdings noch nicht jene Auswirkungen erahnen, die mit der Entwicklung des Internets und mobilen Anwendungen der Kommunikation ausgelöst wurden. Denn mit dieser Technologie ausgestattet, ist es nun auch den Menschen möglich, in diese Inszenierungen einzugreifen, sogar selbst inszenatorisch tätig zu werden und so beispielsweise Anliegen einer Gegenöffentlichkeit zu stärken. Ein historisches Beispiel dafür waren jene Flashmobs, die 2002 in Spanien den Ausgang des Wahlkampfes wesentlich beeinflusst haben. Nach den Terroranschlägen der Al Kaida auf Vorortezüge in Madrid hat die damalige Regierung alles unternommen, um die Urheberschaft auf die ETA zu schieben. Als sich dieses „Storytelling“ als nicht glaubwürdig entpuppte und Großdemonstrationen verboten wurden, entlud sich der Volkszorn in spontanen Kundgebungen, die einfach via SMS – es gab noch kein Facebook – organisiert wurden.
Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ ist daher kein theoretisch-intellektuelles Hirngespinst, sondern längst die bestimmende Realität unserer Zeit. Denn mittlerweile fällt es schon schwer, für eine Handlung, der wir beiwohnen, nicht den Begriff „Event“ zu verwenden, zumal unser Leben zunehmend durchinszeniert wird. Für manche Unternehmen ist die Inszenierung ihrer Produkte genau genommen schon selbst zum Produkt geworden.

Die unendliche Geschichtsvergessenheit

Die Gesellschaft des Spektakels ist gleichzeitig eine Gesellschaft, welche ununterbrochen an unsere Vergesslichkeit appelliert. Das vorgeblich Neue und dessen medialer Hype verstellen uns den Blick auf das Geschichtliche, die Historie, die nun durch das Storytelling ersetzt wird. Das vorgeblich Andere, das uns präsentiert wird, verstellt uns den Blick auf uns Selbst. Die Eventmanager, welche heute den Stadtbetrieb dominieren, sind eine edle Bande von legalen Fluchthelfern und Schleppern, die uns dabei unterstützen vor uns und der Eigentlichkeit unseres Seins davon zu laufen.
So wie bei Feuerbach beispielsweise das Christlich-Religiöse nicht zwingend als eine Verehrung des Göttlichen gesehen werden kann, sondern als eine Hingabe an die bloße Inszenierung von Glaubenskundgebungen, so müssen wir heute auch in der profanen Welt des Marketings daran zweifeln, dass wir uns einem Produkt oder einer Marke tatsächlich zugetan fühlen. Vielmehr ist es lediglich die Inszenierung der damit als Verheißung und Erlösung angepriesenen Glücksmomente in den dafür vorgesehenen urbanen Räumen wie Entertainment-Komplexe, Lounges und Themen-Restaurants.
So verweist Feuerbach bei seinen Ausführungen über das Wesen von Religion nicht umsonst auf die Stadt als jenen Ort, wo Geschehen wirklich bzw. wirkliches Geschehen stattfindet:
„Neben einem Gotte aber verschwindet der Mensch; erst wo die Erde sich entgöttert, die Götter in den Himmel emporsteigen, aus wirklichen Wesen zu nur vorgestellten Wesen werden, erst da haben die Menschen Platz und Raum für sich, erst da können sie ungeniert als Menschen sich zeigen und geltend machen. … Nur die Städter machen darum Geschichte; nur die menschliche ‚Eitelkeit‘ ist das Prinzip der Geschichte. Nur wer die Macht der Natur der Macht der Meinung, sein Leben seinem Namen, seine Existenz im Leibe seiner Existenz im Munde und Sinne der Nachwelt aufzuopfern vermag, nur der ist fähig zu geschichtlichen Taten.“ (2)

In Geiselhaft

Über die Stadt und ihre Vermarktung nachzudenken heißt daher heute mehr denn je, sich auch intensiv mit dem Spektakel auseinanderzusetzen. Schon alleine angesichts dessen, dass es weltweit mittlerweile mehr als 300 Städte mit mindestens einer Million Einwohner gibt, ist es natürlich schon sehr verlockend, sich grell schimmernd und laut zu inszenieren. (3)
Das Spektakel im Sinne von Debord ist auch längst kein dekoratives Element der Warenwelt und weit mehr als ein beliebiges Kommunikationsinstrument. Das Spektakel fungiert als Supplement, als Ersatz und gleichzeitig Ergänzung der Warenwelt und überhaupt allen Eigentlichen. Das Eigentliche wird immer mehr an den Rand des Spektakels gedrängt. Da sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft mehr oder weniger unbemerkt in Geiselhaft des Spektakels genommen wurden und wir diesbezüglich dem Stockholmsyndrom anheimgefallen sind. Die Wirtschaft propagiert den freien Fall aus großer Höhe, die Politik das Clowneske, das Soziale das Zeigen offener Wunden und das System der Bildung weidet sich, ähnlich wie bei den Selektionsmechanismen von Casting Shows, an Schwächen und am Versagen.
Wenn die Stadt zur Kulisse des postmodernen Marketings geworden ist, bei dem es um mehr geht als um die Produkte an sich, dann kann schon alleine aus diesem Grund das Marketing einer Stadt nicht mit dem klassischen Marketing von Produkten gleichgesetzt werden. Es geht um ein immaterielles Gut, dessen Qualitäten schwer zu beschreiben und noch schwerer mit den gängigen Instrumenten des Marketings zu steuern sind. Es geht um Images, Emotionen, und Erfahrungen von permanenter Veränderung. Jede Intervention des Marketings verändert nicht nur die Wahrnehmung von außen, sondern auch den Gegenstand bzw. die Stadt und das darin vorhandene Bewusstsein – im Gegensatz zum Produktmarketing, das die Eigenschaften eines Produktes unangetastet lässt.

Überlappungen

Das Spektakel hat sich schon so weit in den städtischen Raum eingeschrieben, dass es zu seiner Realität geworden ist. Wir haben es insofern mit untrennbaren Variationen von Wirklichkeit und Inszenierung zu tun, die durchaus fraktalen Charakter aufweisen. Die Stadt ist daher nicht irgendeine starre geografische Oberfläche, sondern ein Gebilde aus vielen Fragmenten, die einander immer wieder überlappen. Im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari könnte es sich auch um eine Form der Immanenzebene handeln. Dort sind die Begriffe definiert als „Ereignisse, die Ebene aber ist der Horizont der Ereignisse, der Speicher oder der Vorrat der rein begrifflichen Ereignisse: nicht der relative Horizont, der als Grenze fungiert, sich mit dem Beobachter verändert und die beobachtbaren Sachverhalte umschließt, sondern der absolute Horizont, der von jedem Beobachter unabhängig ist und das Ereignis als Begriff von jedem Beobachter unabhängig macht, in dem es sich verwirklichte.“ (3)
Das Denken über die Stadt ist demnach auch unweigerlich mit ihr selbst verbunden. Denn die Bewegung auf der Immanenzebene „ist nicht das Bild des Denkens, ohne nicht der Stoff des Seins zu sein.“ (4)

Bibliografie:
  • (1) Debord, Guy. Die Gesellschaft des Spektakels. Edition Tiamat, Berlin 1996.
  • (2) Feuerbach, Ludwig. Das Wesen der Religion – Kapitel 3. http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-wesen-der-religion-3456/3
  • (3) Moilanen, Teemu & Rainisto, Seppo. How to Brand Nations Cities and Destinations. Palgrave Macmillan,Basingstoke/New York, 2009. (S. 3)
  • (4) Deleuze, Gilles & Guattari, Félix. Was ist Philosophie? Suhrkamp, Frankfurt a. Main, 2000. (S. 43)
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