Ein unguter Jahresrückblick. Antisemitismus in Europa 2012

Luis Liendo Espinoza*

„Europa – die historische Zivilisation, aus der die Juden durch die Feuerprobe von Triumph und Tragödie in die moderne Welt traten – scheint abermals – und viele bevorzugen es, davor die Augen zu verschließen – demselben Judenhass entgegen zugehen, der den Kontinent im 20.Jahrhundert in den Abgrund riss.“

Diese drastischen Worte stammen aus einem im März 2012 veröffentlichten Special Report des renommierten Simon-Wiesenthal-Centers. Hintergrund dafür war eine Welle besorgniserregender antisemitischer Vorfälle in Europa, welche sich auch nach Erscheinen des Berichts fortsetzte. Am 19. März 2012 erschoss der 24-jährige französische Muslim Mohammed Merah in der jüdischen Schule Ozar Hatorah den Lehrer Yonathan Sandler aus Jerusalem, seine zwei Söhne im Alter von 6 und 3 Jahren und die 8-jährige Miriam Monstango. Monstango wurde aus nächster Nähe in den Kopf geschossen, ein weiterer Schüler erlitt schwere Verletzungen. Merah war ein Kleinkrimineller mit schweren psychischen Problemen, der von Jihadisten, darunter sein 30-jähriger Bruder Abdelkader Merah, radikalisiert wurde. Noch vor seinem Tod, im Zuge eines Versuchs französischer Anti-Terror-Einheiten ihn festzunehmen, kontaktierte Merah einen französischen TV-Sender und bestätigte noch einmal, dass er seine Taten als Beitrag zur Verteidigung der Ehre des Islam bzw. als Teil des globalen Jihad verstand. „Die Juden haben unsere Brüder und Schwestern in Palästina ermordet“, soll Merah gegenüber Channel 24 geäußert haben. Sein ältester Bruder Abdelghani Merah, der von seinen Brüdern brutal angefeindet wurde, weil er eine Frau mit jüdischen Wurzeln heiratete und Antisemitismus verurteilte, erklärte in einem Gespräch mit dem Präsidenten des Conseil Représentatif des Institutions juives de France, es wäre „unbedingt notwendig“, gegen Imame vorzugehen, welche „in die Vorstädte gehen, um Hass zu predigen“. 1 Abdelkader und Mohammed Merah waren auch Aktivisten der französischen islamistischen Gruppierung Forsane Alizza, welche in Frankreich aufgrund ihrer militanten Jihad-Propaganda im Januar 2012 verboten wurde. Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern von Forsane Alizza im März 2012 brachten Schusswaffen ans Tageslicht, darunter auch mehrere automatische Waffen sowie Entführungspläne.2

Den schrecklichen Morden folgte nach Aussage eines Berichts des französischen Service for the Protection of the Jewish Community (SPJC) eine „Eruption“ antisemitischer Vorfälle in Frankreich, welche offensichtlich von der brutalen Tat inspiriert worden waren. Am 24. März, nur wenige Tage nach dem Terroranschlag in Toulouse, wurden Schüsse aus einer Kleinkaliberwaffe auf eine jüdische Schule in Sarcelle abgegeben. Am 26. März wurde ein jüdischer Schüler der Ozar Hatorah Schule in Paris vor der Schule von Angreifern attackiert, welche antisemitische Parolen schrien.3 Am 1. April wurde in Marseille ein jüdischer Mann vor seiner Frau und seinen Kindern von einem Angreifer niedergeschlagen. Am 30. April wurde ebenfalls in Marseille ein jüdischer Jugendlicher mit seinen Freunden von 10 Angreifern mit den Worten attackiert, „[w]ir sind für Palästina, wir mögen keine Juden, wir werden euch alle umbringen und vernichten“. Das Opfer erlitt innere Blutungen, seine Wunden an den Augen mussten genäht werden.4 Am 2. Juni wurde eine Gruppe von drei jüdischen Jugendlichen von 10 Angreifern arabischer Herkunft mit Hämmern und Eisenstangen angegriffen. Alle drei Jugendlichen mussten im Spital behandelt werden.5 Am 5. Juli wurde ein Schüler der Ozar Hatorah Schule im Zug von Toulouse nach Lyon angegriffen.6 Anfang Juli war die Synagoge in St. Denis innerhalb von zehn Tagen dreimal Ziel von Vandalismus.7 Am 15. September riefen islamische Extremisten in Paris auf einer Demonstration gegen den antiislamischen Film Innocence of Muslims dazu auf, Juden zu ermorden.8 Nur wenige Tage später erschütterte ein Granaten-Anschlag auf ein jüdisches Geschäft im Pariser Vorort Sarcelles, der wie durch ein Wunder nur einen Leichtverletzten forderte, erneut die jüdische Gemeinde in Frankreich. Eine Razzia gegen mehrere Verdächtige in ganz Frankreich brachte im Oktober eine islamistische Terrorzelle zutage, welche offensichtlich weitere Anschläge geplant hatte. Die Polizei konnte u.a. mehrere Waffen, Munition, Material zum Bau einer Bombe, 27.000 € in Bar, eine Liste von jüdischen Organisationen im Großraum Paris und Testamente von zwei der insgesamt 12 Festgenommenen beschlagnahmen. Am 5. Oktober wurde eine jüdische Familie in St. Denis, darunter ein Säugling, welche in ihrem Garten Sukkot feierte, von Angreifern arabischer Herkunft mit Steinen angegriffen.9 Vier Tage später wurde ein jüdischer Jugendlicher beim Verlassen der Synagoge mit einem Luftdruckgewehr beschossen.10 In Nizza drangen am 3. November nach einem Disput über einen Parkplatz vier Angreifer gewaltsam in die Wohnung einer jüdische Familie ein. Die Täter schrien antisemitische Parolen, äußerten Todesdrohungen und verletzten sowohl den Vater als auch ein weibliches Mitglied der Familie.11 Am 17. November wurde ein Jude nach dem Verlassen der Synagoge von Sarcelles von drei Angreifern attackiert. Einer der Täter war mit einem Baseballschläger bewaffnet.12

Während in den 80er und 90er Jahren die überwiegende Mehrheit von Angriffen auf Juden in Frankreich von der extremen Rechten ausgeführt wurde, hat sich dieses Muster seit 2000 grundlegend geändert. Nach Angaben des SPJC wurde die Mehrheit der antisemitischen Angriffe von Tätern mit muslimischem Hintergrund verübt. Lange Zeit wurde der Antisemitismus in dieser Bevölkerungsgruppe in Frankreich verharmlost und geduldet. Bereits 2004 übergab eine Kommission aus Schulinspektoren, angeleitet von Jean-Pierre Obin, welche von der französischen Regierung zur Untersuchung der Zustände an französischen Schulen gebildet wurde, ihren Bericht an den französischen Unterrichtsminister. Die Kommission untersuchte 61 Schulen in 24 Departements, welche mehrheitlich in sozialen Krisengebieten angesiedelt waren, befragte Mitarbeiter, Lehrer, Sozialarbeiter, Eltern und Bewohner und untersuchte Lernmaterialien. Der Bericht hielt fest, dass viele muslimische Schüler explizit das Prinzip des Säkularismus und demokratische Prinzipien ablehnten. Antisemitische Vorurteile führten wiederholt dazu, dass kontroverse Themengebiete wie die Shoah und die Krise im Nahen Osten nicht adäquat im Unterricht behandelt werden konnten und Angriffe auf jüdische Mitschüler zunahmen. Vielfach war die jüdische Abstammung von Schulangehörigen aus Angst vor Repressalien allein dem Direktor der Schule bekannt. Der Bericht folgerte, dass ein angemessener Unterricht für jüdische Mitschüler in vielen französischen Schulen immer schwieriger werde. Etliche entsprechende Vorfälle führten auch zu einer Zunahme der Schüler an rein jüdischen Schulen, wie Ozar Hatorah, wo besorgte Eltern ihre Kinder in Sicherheit wähnten. Aufgrund der besorgniserregenden und kritischen Resultate und Analysen der Studie verweigerte die Regierung deren Veröffentlichung. Erst 2012 wurde dieser so genannte Obin-Report offiziell veröffentlicht.13

Der jährliche Antisemitic Incidents Report des Community Security Trust (CST) dokumentiert seit 1984 antisemitische Vorfälle in Großbritannien. Eine Spitze der Gewalt wurde 2009 im Jahr des Krieges zwischen Israel und der Hamas in Gaza erreicht. 2009 mobilisierten islamistische und antizionistische Organisationen weltweit in unzähligen Demonstrationen gegen Israel. Die zentrale Parole lautete, Israel würde vorsätzlich einen Genozid an der palästinensischen Zivilbevölkerung verüben. Damit war die propagandistische Rechtfertigung für Hass und Gewalt gegeben. In Großbritannien kam es in diesem Jahr zu einer Rekordzahl an gewalttätigen Angriffen gegen Juden. Insgesamt wurden in diesem Jahr 124 Fälle in der Kategorie violent antisemitic assault verzeichnet. Ein Brandanschlag auf die Synagoge in London verursachte aufgrund der vom CST installierten technischen Sicherheitseinrichtungen nur vergleichsweise geringen Schaden. Von den Vorfällen, bei denen Angaben zum ethnischen Hintergrund der Täter geliefert wurden, wurden 43% arabischen oder asiatischen und 48% weißen Personen zugerechnet. Nach einem Zensus von 2001 werden rund 90% der britischen Bevölkerung als Weiße angeführt. In Ballungszentren wie London oder Manchester, wo auch die Mehrheit der Angriffe gegen Juden registriert wird, beträgt der Anteil der Weißen um die 70%. Unterstrichen werden muss in diesem Zusammenhang, dass der CST Hunderte Vorfälle, welche sich bspw. gegen proisraelische Organisationen richteten, antiisraelische bzw. pro-Hamas Graffiti etc. nicht in ihren Bericht aufnahmen, weil sie nicht explizit klassische antisemitische Stereotype beinhalteten.14 Der Bericht des CST für 2011 dokumentiert einen Rückgang antisemitischer Vorfälle gegenüber 2009 und 2010. Dennoch liegt die Anzahl gemeldeter Vorfälle (586) bzw. gewalttätiger Angriffe (92) deutlich über den Werten von 2000-2005 und bestätigt ungeachtet geringfügiger Schwankungen eine stetige Zunahme antisemitischer Vorfälle. Für die erste Jahreshälfte 2012 hält der CST eine geringfügige Steigerung antisemitischer Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr fest. Im Februar 2012 drangen 5 Personen in die Büros einer jüdischen Immobilienfirma ein, sie schrien antisemitische Parolen, bedrohten die Mitarbeiter und beschädigten ein Fenster.15 Im Juni 2012 wurden drei jüdische Schüler vor einem Supermarkt von rund 20 farbigen Schülern mit den Worten „Juden, Juden, Gas, Gas“ angegriffen.16 Anfang Juli 2012 wurde ein Jude in Stamford Hill von vier farbigen Erwachsenen brutal niedergeschlagen.17 Im selben Monat drang eine Gruppe Jugendlicher in eine Bäckerei ein, welche von vielen jüdischen Kunden besucht wird. Sie schrien antisemitische Parolen und schlugen auf einen Kunden ein, der daraufhin durch das Schaufenster flog.18 Ebenfalls im Juli 2012 verurteilte ein britisches Gericht ein Ehepaar aus Oldham, Mohammed Sajid Khan und Shasta Khan, wegen geplanter Anschläge auf die jüdische Gemeinde in Manchester. Das Paar hatte sich innerhalb eines Jahres von einem relativ säkularen Ehepaar mit muslimischem Hintergrund zu fanatischen Al-Qaida Anhängern gewandelt. Über Facebook gelangte das Paar zu Al-Qaida Bombenanleitungen und begann in der eigenen Küche mit dem Bau von selbst gefertigten Sprengstoffen. Die Zelle flog durch Zufall nach einem Streit des Mannes mit dem Vater seiner Frau auf.19 Im Oktober 2012 kam es zu einem Brandanschlag auf eine jüdische Schule in London.20 Ende Oktober wurden Einzelheiten eines Gerichtsverfahrens gegen eine islamistische Zelle aus Birmingham bekannt, welche in einem frühen Stadium der Planung letztes Jahr von der Polizei zerschlagen wurde. Die Mitglieder der Zelle diskutierten unter anderem mehrfache Selbstmordanschläge an öffentlichen Plätzen, den Einsatz von giftigen Substanzen und Angriffe mit Schusswaffen auf Synagogen. Zwei Mitglieder der Zelle waren in Pakistan, wo sie vermutlich Terrorunterricht genossen. In der Wohnung eines Verdächtigten wurden Experimente mit selbst produzierten Explosionsmitteln durchgeführt.21

Eine ähnliche Entwicklung wird auch aus Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Deutschland und Schweden berichtet. Besorgniserregend ist die Situation in Malmö. In Malmö leben gerade einmal 700 Juden, welche seit 2009 zunehmend ins Visier islamischer Antisemiten geraten. Anfang Januar 2009 wurde eine proisraelische Kundgebung in Malmö von einer antiisraelischen Gegendemonstration mit Feuerwerkskörpern, Flaschen und Steinen angegriffen. Die mehrheitlich muslimischen Demonstranten schrien u.a. „Israel Terrorist“ und „Hitler, Hitler“. Die Polizei tat wenig, um die proisraelische Demonstration zu schützen, bis sie schließlich auf Druck der Gegendemonstranten von der Polizei aufgelöst wurde.22 Ab diesem Zeitpunkt kam es zu Brandanschlägen auf jüdische Einrichtungen, Sachbeschädigungen gegen jüdische Geschäfte sowie Einschüchterungen und Attacken gegen Juden aus Malmö. Ein Rabbi der Gemeinde, der erst seit einigen Jahren in Malmö lebt, äußerte in einem Interview 2012, dass er allein Opfer von geschätzten 100 antisemitischen Vorfällen sei. Im Januar 2010 verharmloste der sozialdemokratische und antizionistische Bürgermeister von Malmö Ilmar Reepalu in einem Zeitungsinterview die Ereignisse, erklärte seinerseits die Solidarität von Mitgliedern der Gemeinde in Malmö mit Israel zum Teil des Problems und forderte diese auf, sich von Israel zu distanzieren. „Wir akzeptieren weder Antisemitismus noch Zionismus“. Beide seien nach Reepalu extremistische und rassistische Ideologien. Im selben Jahr verneinte Reepalu hartnäckig die Existenz von Antisemitismus unter Muslimen in Malmö und sprach von einer Diffamierungskampagne durch die Israel-Lobby.23 Im Dezember 2010 sprach das Simon-Wiesenthal-Center für Schweden eine Reisewarnung für Juden aus.24 Im März 2012 behauptete Reepalu in einem Interview für das schwedische Magazin NEO, die jüdische Gemeinde wäre von der rechtspopulistischen und islamfeindlichen Partei Schwedendemokraten infiltriert worden.25 Wasser auf den verrückten Mühlen linker und islamischer Antisemiten. Ende September 2012 verursachte eine Explosion geringen Sachschaden an einem jüdischen Gemeindezentrum in Malmö.26 Mehr als 30 Familien haben Malmö aufgrund der zunehmenden Anfeindungen Richtung Stockholm, England oder Israel verlassen.27 In Amsterdam war der Antisemitismus bereits 2010 so weit eskaliert, dass die Polizei begann, Beamte als Juden zu verkleiden, um antisemitische Täter zu verhaften und abzuschrecken. Nach Medienberichten konnten Juden in mindestens sechs Amsterdamer Vierteln nicht mehr die Straße queren ohne bedroht oder attackiert zu werden.28 Amsterdamer Juden sprechen von „No-go-Areas“,29 welche sie zum Selbstschutz meiden. Diese Zustände waren auch Hintergrund für die drastischen Worte des rechtsliberalen Politikers und ehemaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein. Dieser erklärte 2010 gegenüber niederländischen Medien, er sehe „keine Zukunft für erkennbare Juden“ in den Niederlanden und machte dafür den wachsenden Antisemitismus insbesondere unter niederländischen Marokkanern verantwortlich.30 In einem Interview mit Israel National News erzählte ein niederländischer Rabbi von seinen Erfahrungen mit Antisemitismus im Alltag: „An Zugstationen an denen viele Jugendliche abhängen, werde ich beinahe immer beleidigt. Solche Sprüche kommen jedoch nicht allein von nicht-europäischen Migranten, sondern ebenso von einheimischen Niederländern.“ Nach Angriffen auf sein Privathaus wurde er von Kollegen dazu genötigt, ein Alarmsystem in seinem Haus einzurichten.31 In Deutschland erregte Ende August ein Angriff auf einen Rabbi und seine sechsjährige Tochter in Berlin Aufsehen. Der Rabbi, der eine Kippa trug, wurde von vier Jugendlichen mit Migrationshintergrund vor seiner Tochter niedergeschlagen. Die Angreifer äußerten auch Todesdrohungen gegen die Tochter.32 Bereits Anfang August wurden in Stein nahe bei Nürnberg zwei Frauen – eine davon trug sichtbar einen Davidstern – in einem Bad von einem Deutschen türkischer Herkunft mit dem Hitler-Gruß provoziert und später am Parkplatz mit Tränengas angegriffen.33

Berichte, Statistiken und Umfragen verschiedener NGO’s und Institute in den letzten Jahren weisen unübersehbar auf eine besorgniserregende Entwicklung in Europa hin: Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts kam es zu einer nachhaltigen Zunahme antisemitischer Vorfälle, welche über 50 Jahre nach der Niederwerfung des NS-Regimes einer neuerlichen globalen Verbreitung und Dynamik antisemitischer Bewegungen und deren Ideologie geschuldet ist.34 Hier ist nicht von unzähligen antisemitischen Graffiti, Drohungen oder der Hetze im Internet die Rede, sondern von einer ernsthaften Eskalation der Gewalt. Die von Islamisten und linken Antizionisten besonders in West- und Mitteleuropa forcierte politische und mediale Mobilisierung gegen Israel führt nicht allein zu periodischen Eruptionen antisemitischer Gewalt und Hetze, sondern auch zu einer stetigen Steigerung des antisemitischen Normalpegels (Jörg Lau). So wurde während einer linken antizionistischen Kundgebung in Antwerpen aus Anlass der Operation Pillar of Defense im November 2012 die unter antisemitischen Hooligans in Belgien und Holland populäre Parole „Hamas, Hamas. Juden ins Gas“ offen von einer Rednerin der Kundgebung skandiert.35 Berücksichtigt werden muss auch der Umstand, dass umfassende Sicherheitsmaßnahmen der jüdischen Gemeinden in Europa und die Weigerung vieler Juden, in Europa in bestimmten Stadtteilen sichtbar in der Öffentlichkeit aufzutreten, Angriffsflächen effektiv minimieren und dass zudem in westlichen Ländern seit zwei Jahrzehnten offensiv über den Nationalsozialismus aufgeklärt wird. Diese Tatsachen weisen auf ein beunruhigendes Potential des Hasses und der Gewalt hin, welches sich ungeachtet effektiver Hindernisse verbreitet. Mit anderen Worten: Es gibt ernstzunehmende Gründe, die dafür sprechen, dass selbst heute mit Brandstiftungen, physischen Attacken und Anschlägen islamistischer Zellen noch nicht der Gipfel dieser antisemitischen Bewegung erreicht worden ist. Dementsprechend endete auch das Jahr 2012: Am 12. Dezember warnte der israelische Botschafter in Kopenhagen Israelis davor, in Dänemark eine Kippa außerhalb einer Synagoge zu tragen, laut hebräisch zu sprechen oder Davidstern-Anhänger sichtbar zu tragen.36 Aston Fredrik Sierdazki, Leiter der jüdischen Gemeinde in Malmö, erklärte in einem Fernsehinterview, Mitglieder der Gemeinde wären wöchentlich Ziel von antisemitischen Attacken. Es bestehe „große Gefahr“, dass die Situation weiter eskaliere und Schwerverletzte oder selbst Tote zu beklagen wären.37 In Paris wurde am 20. Dezember ein Jude, der gerade die Synagoge verlassen hatte, von vier Angreifern niedergeschlagen. Nach Aussagen des Opfers schrien die Täter dabei antisemitische Parolen.38 Nur wenige Tage später kam es zu einem versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Paris.39

Ausgeblendet werden in diesem Artikel weitgehend die Machenschaften der rechten Antisemiten, welche vor allem in Osteuropa am Zug sind. Beispielhaft dafür ist die Ende November geäußerte Forderung des Parlamentsabgeordneten der rechtsextremistischen Jobbik Márton Gyöngyösinach, eine Liste ungarischer Juden zu erstellen, welche besonders in Regierung und Parlament ein Sicherheitsrisiko darstellen würden.40 Eine Analyse des rechten Antisemitismus bedarf jedoch eines gesonderten Rahmens. Hier gilt es, eine konkrete Gefahrensituation, welche in deutschsprachigen Medien in der Regel nur am Rande oder theoretisch behandelt wird, zu dokumentieren und darzustellen. Die geschilderten Ereignisse stellen allein den spektakulären vorläufigen Endpunkt einer Bewegung dar, deren fruchtbarer Schoß eine Myriade von politischen islamischen Organisationen, linken antizionistischen Kampagnen, rechtsextremistischen Gruppierungen und die Gleichgültigkeit und Unfähigkeit der liberalen und antifaschistischen Zivilgesellschaft in ganz Europa bildet. Besonders linke Antifaschisten fixieren sich hartnäckig auf rechten Antisemitismus und weigern sich aus rein ideologischen Gründen zum Teil überhaupt, die Existenz eines islamischen Antisemitismus einzuräumen. Festgefahrene ideologische und organisatorische Strukturen oder das Ressentiment gegen Israel verhindern eine adäquate Antwort auf eine reale Bedrohung. Der islamische Antisemitismus und linke Antizionismus sind heute die größte Gefahr für Leib und Leben der Juden in Westeuropa. Sie basieren auf eigenständigen organisatorischen Strukturen, spezifischen ideologischen Codes und entwickeln eine vom rechten Antisemitismus unabhängige Dynamik. Die Auswüchse dieser Mobilisierung werden nicht auf Westeuropa beschränkt bleiben, sondern auch in Mittel- und Südeuropa zu spüren sein. Jede Beschränkung auf lokale und nationale Verhältnisse in der Bekämpfung des Antisemitismus operiert unter dem Niveau der Auseinandersetzung. Die antizionistische Mobilisierung agiert europaweit und international.

Antizionisten aller Schattierungen eint die dunkle Obsession, in Israel und Zionismus die ultimative Verkörperung der Unmenschlichkeit zu erblicken, gegen die sich die Verdammten der Erde zu erheben hätten. Israel verkörpert den heutigen modernen Antisemiten alles, was die westliche Zivilisation in den letzten Jahrhunderten verbrochen hat: Kolonialismus, Imperialismus und Nationalsozialismus; und was totalitäre islamische Regime und arabische Diktaturen in den letzten Jahrzehnten systematisch der eigenen Bevölkerung antaten. Die Juden und Israel sollen dafür die Zeche zahlen. Die Eskalation des Antisemitismus, wie von Adorno, Horkheimer und auch Arendt erkannt, ist das Produkt einer grundlegenden Krise der Gesellschaft. Sowohl die islamisch-arabischen Gesellschaften als auch der Westen sind mit ihrem Latein am Ende. Die globalen ökonomischen und politischen Umwälzungen erfordern grundlegende Reformen in zentralen sozialen Institutionen, welche vielen Anhängern des Status quo einiges kosten würden. Die globale Intifada, die sich offensichtlich unaufhaltsam zusammenbraut und letzten Endes auf eine umfassende soziale und militärische Eskalation im Nahen Osten mitsamt Ausschreitungen und Anschlägen in Europa hinausläuft, ist die Antwort der Antisemiten auf die Krise. Eine Flucht in Terror und Vernichtung. Jede vermeintliche oder tatsächliche Beleidigung des Propheten, jeder Akt der Selbstverteidigung des Staates Israels, jede politische oder militärische Intervention des Westens in islamischen Länder kann als Beweis für die Aggression einer globalen jüdisch/zionistischen Verschwörung gegen die islamische Gemeinschaft aufgefasst werden und als Vorwand für weitere Gewalt herhalten. Dabei agieren militante Antisemiten in der Mitte einer Gesellschaft, die selbst ihr antisemitisches Ressentiment hegt oder von Indifferenz geprägt ist. Erinnert sei an die skandalöse Berichterstattung um den Film Innocence of Muslim in den westlichen Mainstream-Medien. Als in Zeitungen und TV-Nachrichten unkommentiert die absurden Behauptungen des Wall Street Journal reproduziert wurden, wonach der Urheber des Videos ein israelischer Immobilienhändler sei, der von 100 Juden mit Millionen Dollar gesponsert worden wäre. Millionen Antisemiten wurden damit nun auch von den etablierten Medien in ihrem Wahn bestärkt, sich als Opfer jüdischer Machenschaften zu wähnen.

Für Aufklärung im originären Sinne ist es heute jedenfalls zu spät. Der europaweite Aufstieg des Antisemitismus ist auch die reale Bankrotterklärung der antifaschistischen Aufklärungsarbeit durch Staat und Zivilgesellschaft. Die wohlmeinende Aufklärung im Sinne sachlicher Argumentation, der amateurhafte und angespannte Aktionismus der Linken, die zunehmend selbstzweckhaften Differenzierungen der Antisemitismusforschung, die bornierte Anbindung an die politischen Eliten haben sich allesamt obsolet gemacht. Während Akademiker nach verlässlichen empirischen Daten verlangen, um überhaupt mit der Forschung beginnen zu können und die linke Zivilgesellschaft sich in ihre eigene Parallelgesellschaft verabschiedet, basteln Wahnsinnige bereits an der Umsetzung ihrer mörderischen Pläne. Es soll hier keine Hysterie verbreitet werden, in Europa steht kein neuer Holocaust bevor. Die existenzielle Bedrohung für Juden weltweit ist gegenwärtig das iranische Regime und sein Atomwaffenprogramm. Doch Hunderttausende Juden in Europa sind mit einer vor wenigen Jahren nicht vorstellbaren Welle von Anfeindungen, antisemitischer Propaganda und Gewalt konfrontiert. Diese Bedrohung erfordert eine ernsthafte und kritische Antwort. So verrückt es auch erscheint, dass heute den Juden im Namen von Menschenrechten und Freiheit der Garaus gemacht werden soll, der Zusammenhang zur Gewalt liegt auf der Hand. Das Unbehagen, das sich einstellen mag, wenn über diesen Wahnsinn berichtet werden soll und das gerne als Übertreibung und Panikmache denunziert wird, ist eine ungute Ahnung des Gewaltpotentials und der Dynamik dieser ideologischen Bewegung. Den Betroffenen des islamischen und rechten Terrors in Europa – Homosexuellen, Frauen, Juden, Roma und Ausländern – bleibt heute nichts anderes übrig, als selbst für den schlimmsten Fall vorbereitet zu sein, die Brennpunkte der Gewalt zu verlassen und alle Ressourcen zu mobilisieren, um sich effektiv zu verteidigen. Die Aufgabe der Antifaschisten und nicht-konformistischen Kritiker ist es, sich in diesem Chaos nicht von überkommenen Konventionen und Vorstellungen irre machen zu lassen. Wesentlich ist nicht, was bornierte Instanzen als moralisch richtig, als links oder rechts, als wissenschaftlich oder prinzipientreu klassifizieren, sondern allein, was die Situation objektiv erfordert.


Luis Liendo Espinoza ist freier Autor und Mitglied bei Scholars for Peace in the Middle East – Austria und lebt in Wien.

1 http://www.ejpress.org/article/60187 ; http://www.jpost.com/International/Article.aspx?id=291415

2 http://articles.cnn.com/2012-03-31/world/world_europe_france-arrests_1_islamist-group-qaeda-french-state?_s=PM:EUROPE ;
http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-17562412 ;
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1600684/Die-Islamisten-Gruppe-Forsane-Alizza ;
http://www.guardian.co.uk/world/2012/apr/03/islamists-charges-kidnap-french-judge ;
http://www.ict.org.il/LinkClick.aspx?fileticket=99fFLwpcQLQ%3D&tabid=320

3 http://www.adl.org/Anti_semitism/anti-semitism_global_incidents_2012.asp

4 http://spcj.org/publications/SPCJ-20120604en.pdf

5 http://www.ejpress.org/article/58695

6 http://www.adl.org/Anti_semitism/anti-semitism_global_incidents_2012.asp

7 http://antisemitism.org.il/article/73504/synagogue-vandalized-third-time-ten-days

8 http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=gJZF-Vvv3wg; http://jssnews.com/2012/09/18/wanted/

9 http://www.jta.org/news/article/2012/10/11/3108956/woman-wounded-in-attack-on-familys-sukkah-near-paris

10 http://www.adl.org/Anti_semitism/anti-semitism_global_incidents_2012.asp

11 http://antisemitism.org.il/article/75687/attempt-choke-jew-argument-over-parking-space

12 http://antisemitism.org.il/article/76285/antisemitic-attack

13 http://frontpagemag.com/2012/bruce-bawer/au-revoir-les-enfants/2/;
ftp://trf.education.gouv.fr/pub/edutel/syst/igen/rapports/rapport_obin.pdf;
http://jihadimalmo.blogspot.co.at/2005/05/leaving-no-french-islamist-behind.html

14 http://www.thecst.org.uk/docs/CST-incidents-report-09-for-web.pdf

15 http://antisemitism.org.il/article/70008/attack-jewish-owned-shop

16 http://antisemitism.org.il/article/73417/britain-violent-incidents-june-2012-5-incidents

17 http://antisemitism.org.il/article/73331/avreich-beaten-assault

18 http://antisemitism.org.il/article/73823/britain-violent-incidents-july-2012-4-incidents ;

19 http://blog.thecst.org.uk/?p=3769# ; http://blog.thecst.org.uk/?p=3884;
http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/terrorism-in-the-uk/9345893/Muslim-couple-planned-to-bomb-Jews-in-al-Qaeda-inspired-plot.html;
http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/crime/9415695/Homegrown-British-terrorist-bride-jailed-over-Jewish-plot.html#

20 http://antisemitism.org.il/article/74960/arson-attack-jewish-school ;

21 http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/terrorism-in-the-uk/9634065/Terror-gang-discussed-killing-1000-people-with-poisoned-hand-cream.html# ; c

22 http://tedekeroth.se/2009/01/25/arabist-attacker-peaceful-pro-israeli-demonstration/; http://www.youtube.com/watch?v=GqZtJlG3zso&feature=related

23 http://www.tau.ac.il/Anti-Semitism/articles/topicalbrief6.pdf

24 http://www.wiesenthal.com/site/apps/nlnet/content2.aspx?c=lsKWLbPJLnF&ba href=“http://www.adl.org/Anti_semitism/anti-semitism_global_incidents_2012.asp“ target=“_blank“/a=4441467&ct=8971903

25 http://www.thelocal.sa href=“#40″e/39858/20120323/

26 http://www.ejpress.org/article/61988

27 http://www.zeit.de/2011/05/Judentum

28 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/netherlands/7846704/Dutch-police-use-decoy-Jews-to-stop-anti-Semitic-attacks.html

29 http://www.zeit.de/2011/05/Judentum

30 http://www.jpost.com/JewishWorld/JewishNews/Article.aspx?id=198382;

31 http://www.israelnationalnews.com/Articles/Article.aspx/11019#.UMZBnIPxYuc

32 http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/rabbiner-zusammengeschlagen-das-war-eine-attacke-auf-die-religionsfreiheit/7067800.html

33 http://antisemitism.org.il/article/73881/youngster-shouted-insults-towards-women-swimming-pool-and-sprayed-them-tear-gas

34 „Reports by the Stephen Roth Institute for the Study of Contemporary Racism and Anti-Semitism, the Coordinating Forum for Countering Antisemitism, the European Union Agency for Fundamental Rights, the OSCE’s Office for Democratic Institutions and Human and Rights, and the U.S. State Department (on global human rights and religious freedom), all confirmed that worldwide anti-Semitic incidents exploded during the first decade of the twenty-first century, more than doubling during the single year of 2009 to set a twenty-year record high.“: http://www.wiesenthal.com/atf/cf/%7B54d385e6-f1b9-4e9f-8e94-890c3e6dd277%7D/EUROPE_AND_THE_JEWS_2012-DRAMATIC_RISE_IN_ANTI-JEWISH_ANTI-ISRAEL_PREJUDICE_V3.PDF

35 http://antisemitism.org.il/article/76000/protesters-chant-%E2%80%98hamas-hamas-jews-gas%E2%80%99

36 http://www.haaretz.com/jewish-world/jewish-world-news/israeli-envoy-warns-against-wearing-kippot-in-copenhagen-1.484728

37 http://english.cntv.cn/program/newsupdate/20121217/106148.shtml

38 http://antisemitism.org.il/article/76633/jewish-man-was-attacked-leaving-synagogue

39 http://antisemitism.org.il/article/76635/attempt-ignite-synagogue

40 http://www.budapesttimes.hu/2012/11/29/anger-over-latest-antisemitism-in-parliament/; http://antisemitism.org.il/article/76231/hungarian-mp-suggests-creating-list-jews ; In den meisten Medien wurde berichtet, Gyöngyösi hätte sich allein auf Juden in Regierung und Parlament bezogen. Tatsächlich gingen seine Aussagen darüber hinaus.

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